Mit der Einwanderung jüdischer Kontingentflüchtlinge nach Deutschland schließt sich ein Kreis. Sie kamen zurück in die deutschen Lande, aus denen ihre Vorfahren vor langer Zeit während und nach den Pogromen der mittelalterlichen Kreuzzüge und der großen Pest geflohen waren. "Aschkenas" steht bei jüdischen Gelehrten des Hochmittelalters für die deutschen Lande, das erste Siedlungsgebiet von Jüdinnen und Juden in Nordwesteuropa, vor allem an den Ufern des Rheins. Das Jubiläum über mehr als 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland muss diesen Ausgangspunkt jüdisch-aschkenasischer Kultur in das historische Gedächtnis zurückrufen.
Auch die Zeit mit ihrer wechselvollen Geschichte im Aufnahmegebiet von Polen-Litauen und den späteren Ansiedlungsrayons des Zarenreiches gehören wie das Schicksal der sowjetischen Juden in der Shoah und nach dem Krieg heute zur Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland. Deutschland hat seit 1990 ungefähr 2,5 Mill. Menschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion aufgenommen. Neben den russlanddeutschen Spätaussiedler:innen kamen - aufgrund einer ursprünglich am Runden Tisch der DDR geborenen Idee - auch ungefähr 200.000 Jüdinnen und Juden als Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland. Neben dem Anspruch "der Verantwortung unserer eigenen deutschen Geschichte" gerecht zu werden, gehörte auch die "Revitalisierung des jüdischen Elements im deutschen Kultur- und Geistesleben" zu den Wünschen, die die deutsche Politik mit der Aufnahme verband.
Bei den damaligen politischen Entscheider:innen wie auch in der Öffentlichkeit war neben der Shoah im Übrigen über die Geschichte und Herkunft des aschkenasischen Judentums aus der Sowjetunion, ihre mittelalterliche Flucht- und Wanderungsgeschichte so wenig bekannt, wie über die antijüdischen Verfolgungen unter Stalin, die sowjetische Tabuisierung des Gedenkens an die Opfer der Shoah und die aufgeheizte antisemitische Stimmung zum Ende der Sowjetunion. Russlanddeutsche und aschkenasische Jüdinnen und Juden sind zwei verschiedene soziale Gruppen und keinesfalls identisch. Aber betrachtet man die kulturelle und geografische Herkunft beider Gruppen, ihre Schicksale nach Weltkrieg und Shoah rechtfertigt dies eine Schlechterstellung jüdischer Kontingentflüchtlinge nicht.
Die Fachtagung wird vom Tikvah Institut gUG mit der Heinrich Böll Stiftung organisiert. Das Käte Hamburger Kolleg des CERES (Ruhr-Universität Bochum), das Centrum Judaicum und die Amadeu Antonio Stiftung sind Kooperationspartner.