Untersuchung zu Traditionsbildungsprozessen bei den Kagyüpas
Auf der Basis einer Handschrift von Jigten Sumgöns dGongs gcig (Mitte bis spätes 13. Jh.)
Mit dem Ziel philologisch fundierte Untersuchungen zu Traditionsbildungsprozessen bei den tibetisch-buddhistischen Kagyüpa-Traditionen des 12. und 13. Jahrhunderts durchzuführen werden in diesem Projekt drei zentrale Fragen behandelt:
- Welche Quellen dienten den Kagyüpa-Protagonisten als Grundlage?
- Wie haben sie sich von den konkurrierenden Gruppen abgegrenzt?
- Welches Selbstverständnis haben sie als Ganzes und in ihren Untertraditionen entwickelt?
Das Projekt basiert auf einem Werk, der Einen Intention (dGongs gcig), das erstmals 1226 gelehrt und schriftlich festgehalten worden ist. Es wird uns durch einen Kommentar von 1267 überliefert, der als Handschrift vorliegt, die spätestens 1290 entstanden ist. Das Werk ist der frühe und einzige Versuch der Kagyüpas, ihre Positionen zu praktisch allen Aspekten ihrer Überlieferung in einer einzigen Abhandlung zu definieren. Seine 190 Thesen, die „Vajra-Statements“ genannt werden, nennen Quellen, ziehen Abgrenzungslinien und korrigieren vermeintlich irrige Konzepte — auch in Bezug auf die eigene Tradition. Daher trägt dieser Text auf einzigartige Weise und in erheblichem Maße zur Lösung der drei oben genannten grundlegenden Fragen bei. Eine philologische Analyse und eine Untersuchung des Inhalts dieses Manuskripts und des darin enthaltenen Kommentars sind die beiden Säulen dieses Projekts.
Besonderes Augenmerk wird auf die „anti-intellektuelle“ Ideologie der Überlieferung der Kagyüpas gelegt, die geprägt ist von der Idee einer nonverbalen und nicht-konzeptionellen epiphanischen, ganz auf den Guru-ausgerichteten Begegnung, die von Charisma, Selbstaufopferung und Geheimhaltung gekennzeichnet ist. In dieser Begegnung wird dem Adepten die „spirituelle Erkenntnis“ in der Art und Weise „einer perfekten Form und eines verarbeitbaren Tons“ übermittelt. Diese Ideologie, die dem indischen Siddha-Ideal folgt, ist jedoch hier, in der Periode der „späteren Verbreitung der Lehren“ der „neuen Übersetzungsperiode“, eingebettet in die ethisch-monastische Praxis, die von Gampopa, der ursprünglich zur Kadampa-Schule gehörte, in die Kagyüpa-Tradition eingeführt worden ist. Dieser Einfluss hat vermutlich wesentlich zum dauerhaften Erfolg der Kagyüpas beigetragen. Es wird insbesondere Aufgabe dieses Projekts sein, zu zeigen, dass diese und andere Merkmale des so genannten „Zusammenflusses der beiden Ströme“ von Kadam und Kagyü erstmals im dGongs gcig deutlich in Erscheinung tritt. Eine weitere Aufgabe des Projekts wird es sein zu zeigen, wie diese Verschmelzung der beiden Traditionen den Prozess der Entwicklung eines Selbstverständnisses unter den Kagyüpas erleichtert hat.
Es sollen insbesondere drei Themen des dGongs gcig behandelt werden:
- Die Integration des Vinaya in die yogische Tradition der Kagyüpas,
- die Relokalisierung der Bodhisattva-Ethik, so dass sie wieder strikt im Pratimoksha verankert wird, und
- die meditative Übung, Erfahrung und Verwirklichung von Mahamudra als nonverbale, nicht-konzeptionelle epiphanische Begegnung von Guru und Adepten, die mit Charisma und Hingabe aufgeladen ist, und die außerdem von einem ausschließlichen Gradualismus, einem Reinigungsprozess, bei dem die Frucht „das Ergebnis der Trennung (von Geistegiften und Schleiern) ist“, und von einer spontanen Vervollkommnung und Manifestation zu jedem möglichen Zeitpunkt (abhängig von der Kraft der Bemühungen des Praktizierenden) geprägt ist.
Förderzeitraum
11.2018 – 10.2022
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