Eine Untersuchung zur Herausbildung der Dzogchen-Tradition in den Kommentaren des tibetischen Gelehrten Nubchen Sangye Yeshe (10. Jh.)

Nubchen Sangye Yeshe (10. Jh.) war einer der einflussreichsten Gelehrten in der Geistesgeschichte Tibets. Er spielte eine herausragende Rolle in der älteren Kodifizierung der buddhistischen Traditionen in Tibet, insbesondere in der Herausbildung der Dzogchen-Lehre. Die Dzogchen-Lehre, die den Weg der unmittelbaren Erkenntnis der wahren Natur des Geistes beschreibt, wurde zum besonderen Merkmal der Nyingma-Tradition. Ihre Ursprünge sind bisher jedoch noch nicht vollständig bekannt.

Dieses Forschungsvorhaben untersucht eine Gruppe unerforschter Dzogchen-Schriften des Gelehrten Nubchens, die zu den ältesten eigenständigen Dzogchen-Kommentaren zählen. Es wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Förderrichtlinie „Kleine Fächer – Große Potenziale“ gefördert.

Die untersuchten Schriften sind den Grundprinzipien des Dzogchens, u. a. den Ideen der spontanen Verwirklichung und des Nichtstrebens, gewidmet. Es handelt sich dabei um den Tsemo Jungyal Drelpa (rTse-mo byung-rgyal ’grel-pa, TBG); den Jangchub Sem Dewa Trakökyi Döndrel (Byang-chub sems bde-ba ’phra-bkod-kyi don-’grel, DPG); und den Dorje Zongpukyi Drelpa (rDo-rje gzong-phugs-kyi ’grel-pa, DZG) sowie deren Grundtexte, die zu den 18 Schriften der sogenannten Geistserie (sems-sde bco-brgyad) und somit zu den ältesten Dzogchen-Texten überhaupt gehören. Dieser weitgehend unerforschte Textkorpus ist aufgrund seiner archaischen und sehr speziellen Terminologie nur wenigen Experten weltweit zugänglich. Eine philologische Untersuchung der Textquellen ist nötig, um einerseits die Texte einem Publikum außerhalb der tibetologischen Forschung erstmals zugänglich zu machen und um andererseits eine Basis für deren ideengeschichtliche Erschließung zu schaffen.

Was die ideengeschichtliche Untersuchung der Kommentare betrifft, sollen drei unterschiedliche und miteinander eng verknüpfte Forschungsfragen verfolgt werden. Ausgehend von einem spezifischen Forschungsinteresse der Tibetologie sollen auch darüber hinausgehende Fragen untersucht werden, die z. B. für die Religionswissenschaft von Bedeutung sind.

  1. Analyse der Dzogchen-Themen in Nubchens Kommentaren
    Indem wichtige Themen zur Lehre und Praxis des Dzogchen in einer Gruppe eng zusammengehöriger Nubchen-Kommentare studiert werden, soll die Entwicklung von Nubchens Eigenverständnis der geerbten Tradition, sowie dessen Weiterformung und Überlieferung durch ihn nachgezeichnet werden.
  2. Abgrenzungsprozesse in der Herausbildung der Dzogchen-Tradition
    Indem die Nubchen Kommentare mit ausgewählten Manuskripten verglichen werden, die zu den bedeutenden Textfunden im zentralasiatischen Dunhuang der gleichen Periode gehören, soll ein vertieftes Verständnis der innovativen Rolle Nubchens bei den frühen doxographischen Abgrenzungsprozessen der Dzogchen-Tradition in ihrer Entwicklungsphase gewonnen werden. Dabei soll die Wechselwirkung zwischen den tibetischen Traditionsbildungsprozessen mit den Entwicklungen im östlichen Zentralasien veranschaulicht werden. Nubchens klare Entscheidung, das Dzogchen als selbständigen Weg des Erwachens abzugrenzen, war eine religiöse Innovation mit weitreichenden Folgen für die Selbstdarstellung der späteren Nyingma-Tradition. Das Fallbeispiel des Dzogchens kann deshalb Impulse für die religionswissenschaftliche Forschung liefern, gerade in Bezug auf die vergleichende Untersuchung der Frühphasen von Traditionsbildungsprozessen.
  3. Paradox der Praxis des ungezwungenen Nichtstrebens
    Anhand der Dzogchen-Kommentare soll ein größeres Verständnis für das Paradox einer Praxis des ungezwungenen Nichtstrebens gewonnen werden: Wie kann das Nichtstreben als Praxis erlernt werden, wenn das Lernen und Praxis selbst eine Form von Streben darstellen? Dabei handelt es sich um eine äußerst wichtige Thematik für das Selbstverständnis der Dzogchen-Tradition, mit deren Untersuchung ein Ansatzpunkt für eine vergleichende religionswissenschaftliche Betrachtung hergestellt wird: Wie wird die Ablehnung der Willenskraft und des Selbststrebens im Dzogchen angewandt und dargestellt? Und wie lässt sich diese Thematik zu ähnlichen Verfahren im Chan-Buddhismus und in anderen kontemplativen Systemen vergleichen?

Zusammenfassung: Dieses Forschungsvorhaben soll die einzigartige und hoch spezifische Sammlung noch unerforschter alttibetischer Dzogchen-Texte erstmalig einem breiten Publikum vorstellen, und gleichzeitig grundlegende Fragen zu doxographischen Grenzziehungsprozessen und zum Inhalt kontemplativer Praktiken im Hinblick auf religionswissenschaftliche Fragen erarbeiten.

Förderzeitraum

10.2019 – 09.2022

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