Atmospheres.Matter

Katholische Jugendinitiativen in Deutschland: Wandel durch Atmosphäre?

„Jugend 2000“, „Nightfever“, „Veni!“ – das sind nur einige der katholischen Jugendinitiativen, die in den letzten Jahren in Deutschland Aufmerksamkeit erregen. Keineswegs unumstritten präsentieren diese Gruppen Zugänge zum christlichen Glauben, trotz katholischer Ausrichtung oftmals überkonfessionell, niedrigschwellig und in bewusster Positionierung zur traditionellen Amtskirche. Beobachter/innen bemerken, dass die Veranstaltungen von einer „besonderen Atmosphäre“ geprägt sind und auch Teilnehmer/innen berichten davon, dass es die „Atmosphäre“ sei, die ihr Interesse geweckt und sie zum Bleiben bewegt habe.

Offenbar erzeugen die Veranstaltungen dieser Initiativen gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch den gezielten Einsatz atmosphärischer Faktoren (z. B. Licht, Musik, Raumgestaltung, emotionale Ansprache) eine positive Einstellung. Oft ähnelt diese Atmosphäre in vielem dem, was neo-evangelikale Gemeinschaften – besonders in den USA, aber auch anderswo – schon seit Jahrzehnten praktizieren.

Diese Konstellation von Faktoren und Hypothesen wird unter dem Dach des Atmosphären-Begriffs untersucht. Dabei steht neben der empirischen Aufarbeitung der genannten Bewegungen eine konzeptuelle Arbeit am Begriff „Atmosphäre“ auf dem Programm: Die Vermutung ist, dass ein analytisch präzise konturierter Atmosphärenbegriff ein zentrales Instrument sein kann, um die Wirkung christlicher Jugendinitiativen sowie ihre Positionierung gegenüber der römisch-katholischen Liturgie zu beschreiben und zu erklären. Zudem scheint der Atmosphärenbegriff ein zentrales tertium comparationis zu sein, das womöglich besser geeignet ist als beispielsweise Theologie, Organisationsstrukturen oder historische Genese der genannten Gruppierungen: Katholische Jugendinitiativen unterscheiden sich im Hinblick auf Atmosphäre von der Amtskirche und ähneln darin zugleich US-amerikanisch geprägten evangelikalen Veranstaltungen.

Ein wichtiger Ansatz ist dabei, dass ein sozialwissenschaftlich operationalisierbares und analytisch fruchtbares Atmosphärenkonzept nicht mit dem umgangssprachlich oft nur vage definierten Atmosphärenbegriff übereinstimmen kann, auch wenn durchaus Korrespondenzen zwischen beiden Begriffen notwendig sind. Wie die angesprochenen Jugendinitiativen zeigen, sind Atmosphären zentral für religiöse Kommunikation und Erfahrung – nicht nur in diesen Initiativen, sondern auch für religiöse Formationen im Allgemeinen. Sie sind ein ausschlaggebender Faktor für das Fortbestehen oder Scheitern religiöser Vergemeinschaftung: Wenn Transzendenz für religiöse Akteure nicht auch atmosphärisch verfügbar gemacht wird, können religiöse Innovationen kaum langfristig Anziehungs- und Bindungskräfte entfalten. Doch diese Zusammenhänge sind religionswissenschaftlich bislang kaum erforscht.

In Nachbardisziplinen wie der Philosophie und Architekturwissenschaft wird das Konzept bereits diskutiert, während humangeographische sowie psychologische Ansätze versuchen, den Begriff zu operationalisieren. Auch die rezenten Perspektivenwechsel der Kultur- und Geisteswissenschaften wie spatial, somatic oder material turn adressieren Aspekte dessen, was Atmosphären ausmachen. Dennoch gibt es bislang keine systematische religionswissenschaftliche Diskussion des Konzepts und seiner Anwendbarkeit in der Religionsforschung. Das Projekt soll daher Atmosphären für die Religionsforschung methodisch und theoretisch verfügbar machen.

Der Begriff „Atmosphäre“ wird in einer heuristischen Ausgangsdefinition vorläufig verstanden als Dispositionsgefüge, das die Bedeutung, Wirksamkeit und sinnliche Wahrnehmung räumlicher Arrangements sowie damit verbundene soziale Vorgänge umfasst und meint somit nicht allein die intentionale architektonische Wirkung und Symbolik eines Raumes oder die subjektive Raumerfahrung. Der physische Raum birgt ein semantisches Potenzial für bestimmte Atmosphären, das es methodisch zu erschließen gilt. Dazu wird das Material konzeptionell als „Text“ behandelt und somit für hermeneutische Sequenzanalysen zugänglich, wobei existierende Ansätze der architekturbezogenen objektiven Hermeneutik weiterentwickelt werden.

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Beteiligte Personen

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Dr. Martin Radermacher

Einzelforscher*in

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martin.radermacher@rub.de