Achsenzeit

Ein Deutungsschema im Schnittpunkt soziologischer, religionswissenschaft­licher, kognitionsbiologischer und philosophischer Debatten

Untersucht werden soll erstens, inwieweit die Mängel des Deutungsschemas "Achsenzeit" in seiner ursprünglichen Konzeption durch Jaspers (Essentialismus, teleologische Geist-Metaphysik, Unabhängigkeit der Achsenkulturen, pejoratives Verständnis der nicht-achsenzeitlichen Kulturen etc.) durch interdisziplinäre Kontextualisierung überwunden werden können: Der Essentialismus durch eine handlungstheoretische Grundlegung, die teleologische Geist-Metaphysik durch kognitionswissenschaftliche Untersuchungen der Strukturen des Embodiment, die Unabhängigkeitsthese durch historische Erforschung der Austauschbeziehungen zwischen Traditionsgeflechten, die Abwertung anderer Kulturen durch eine integrative Symbolanthropologie etc. Zweitens wird es um die begriffliche Innenarchitektur des Konzeptes gehen, wobei besonders die Fragen nach der "Entdeckung der Transzendenz", nach deren innerer Verbindung mit den Begriffen der Kontingenz und der Verkörperung sowie nach der methodischen Wechselbeziehung zwischen abduktiven Generalisierungen und empirisch-historischer Analyse der großen Traditionsgeflechte im Zentrum stehen sollen. Drittens sollen die Konsequenzen untersucht werden, die sich aus dem anthropologisch angereicherten Konzept "Achsenzeit" für die grundbegriffliche Struktur des Kollegprogramms ergeben: dies betrifft besonders den Zusammenhang von extensionalen und intensionalen Gebrauchsweisen des Religionsbegriffs im Singular und Plural und die Frage nach der Möglichkeit einer symbolanthropologischen Stützung und Ergänzung der im Kolleg angestrebten Typologie religiöser Austauschprozesse. Viertens soll es um die diachrone Präsenz der achsenzeitlichen Entwicklungen unter dem Gesichtspunkt einer Theorie der Moderne gehen. Mit dem Verhältnis von Achsen- und Sattelzeit sowie der Frage nach dem Zusammenhang von Transzendenzbewusstsein und der Entstehung von Säkularität sind zwei zentrale Fragestellungen benannt, denen in diesem Zusammenhang nachgegangen werden soll.

Im Dialog mit materialen Untersuchungen exemplarischer Achsenkulturen und der kognitionswissenschaftlich orientierten Anthropologie sollen die folgenden heuristischen Intuitionen überprüft, präzisiert und korrigiert werden. Erstens: ein angemessenes Verständnis der Genese und Reproduktion religiöser Traditionsgeflechte setzt eine breite Kontextualisierung der Religionsthematik voraus, für die eine kognitionswissenschaftlich informierte Anthropologie der Expressivität den angemessenen Rahmen abgeben kann. Zweitens: das handlungstheoretisch gewendete Deutungsschema "Achsenzeit" ist für dieses Verständnis unentbehrlich, weil es an der systematischen Schnittstelle zwischen historischer Kontingenz und symbolanthropologischen Invarianten angesiedelt ist. Drittens: sachlich entscheidend für die Dynamik religiöser Kommunikationen zwischen den achsenzeitlichen Kulturen ist die innere Zusammengehörigkeit von Transzendenzerfahrung und Kontingenzbewusstsein. Viertens: Auch die begriffslogische Struktur des Kollektivsingulars "Religion" kann nur aufgeklärt werden, wenn seine Entstehung in der Reflexion dieses Zusammenhangs durch Autoren der Sattelzeit angemessen berücksichtigt wird. Fünftens: im Religionstransfer zwischen den Achsenkulturen durchdringen sich historische Kontingenz und deren bewusste Bearbeitung. Dieses Muster kann, ausgehend von der Metapher der "Traditionsgeflechte", begrifflich präzisiert werden, wodurch eine Alternative zwischen Essentialismus einer- und vollständigem Verzicht auf Einheitskonzeptionen anderseits denkbar wird.

 

Beteiligte Person

Beteiligte Personen

MJ

Prof. Dr. Matthias Jung

Einzelforscher*in