Religious Diversity in North Rhine-Westphalia

Die Pluralisierung der religiösen Mitgliedschaften und Angebote gehört zu den wichtigsten Strukturmerkmalen moderner Gesellschaften. Das Forschungsprojekt Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen hat erstmals für Deutschland den Versuch unternommen, die Gesamtheit der ortsansässigen religiösen Organisationen und Mitgliedschaftsverhältnisse flächendeckend für eine größere Region zu erfassen.

Im Mittelpunkt des Projektes stand die Frage, wie sich die nordrhein-westfälische Religionslandschaft intern ausdifferenziert und welches die wesentlichsten Bedingungsfaktoren dieser Pluralisierung sind. Nicht zuletzt ging es darum, festzustellen, welche Rückwirkungen von der Pluralisierung des religiösen Feldes auf die religiöse Praxis, also auf die Wahrnehmung und das Handeln der religiösen Akteure ausgehen.

Rund 228 religiöse Organisationen in NRW

Zu diesem Zweck wurden ökologische Daten zu folgenden Fragestellungen erhoben:

Insgesamt wurden für Nordrhein-Westfalen 228 religiöse Organisationen oder Strömungen ausgemacht, die sich in rund lokale 8.000 Gemeinden und Ortsgruppen aufteilen. Alles in allem sind 75,4 Prozent der nordrhein-westfälischen Bevölkerung Mitglied einer Religionsgemeinschaft. Wo es keine formale Mitgliedschaft gibt, kann man sagen, dass Menschen an einer religiösen Organisation partizipieren, sich vor Ort engagieren oder bestimmte Angebote wahrnehmen.

Das vertretene Spektrum der religiösen Traditionen reicht von den christlichen Amtskirchen sowie den islamischen Verbänden und Moscheevereinen über die kleinen christlichen Gemeinschaften, die orthodoxen Kirchen und das Judentum bis hin zu den östlichen Religionen und neureligiösen Strömungen.

Anhand der Balken wird die prozentuale Verteilung der einzelnen Richtungen deutlich (die Säulen geben Auskunft über die jeweilige interne, organisatorische Differenzierung): Der römische Katholizismus bindet rund 42 % der Bevölkerung, die Katholik/innen sind damit in NRW stärker als im Bundesdurchschnitt vertreten. An zweiter Stelle hinsichtlich der Mitgliedszahlen liegen die evangelischen Landeskirchen mit etwa 28 % der Bevölkerung. Drittstärkste Kraft in NRW ist der Islam. Angehörige islamischer Organisationen machen annähernd drei Prozent der Bevölkerung aus. Die Mitglieder kleiner christlicher Religionsgemeinschaften kommen auf rund ein Prozent, die orthodoxen Kirchen erreichen 0,5 Prozent, östliche Religionen liegen bei 0,2 Prozent der Bevölkerung. Das Judentum stellt rund 0,2 Prozent, die in der Abbildung unter der Rubrik „Weitere“ geführten Religionsgemeinschaften, wozu insbesondere das neureligiöse Spektrum gehört, bleiben ebenfalls unter einem Prozent.

Daraus ergibt sich: Rund ¾ der Bevölkerung sind religiös gebunden, ¼ der Menschen in Nordrhein-Westfalen gehört keiner Religionsgemeinschaft an. Unter den nichtchristlichen Religionen spielt der Islam zahlenmäßig die größte Rolle. Die Mitgliedschaftsverluste der großen Kirchen werden in keinster Weise ausgeglichen durch die Hinwendung zu außerkirchlichen Formen von Religiosität. Das komplette alternative oder neureligiöse Spektrum bleibt – auf die Gesamtbevölkerung gerechnet (bestimmt über Mitgliedschaften) – quantitativ marginal.

Die Topographische Verteilung der religiösen Strömungen

Der Römische Katholizismus ist besonders stark im Münsterland, im Sauerland, links-rheinisch und in der Eifelregion vertreten, schwach hingegen in Ostwestfalen, im Siegerland und im Ruhrgebiet. Die Präsenz variiert zwischen 72 und 9% der Bevölkerung in den jeweiligen Regionen.

Für die evangelischen Lan­deskirchen zeichnet sich eine spiegelbildliche Verteilung ab: Stark vertreten sind sie in Ostwest­falen, im Siegerland, im Bergischen Land, im Märki­schen Kreis sowie im Ruhrge­biet. Die Präsenz variiert regional zwischen 63,6 und 13%.

Religiöse islamische Gemeinschaften sind beson­ders häufig in Duisburg, Hamm und Gelsenkirchen ver­treten, dann aber auch im nördlichen und östli­chen Ruhrgebiet, im Märkischen Kreis, in Wuppertal und Rem­scheid. Insgesamt lässt die Verteilung jedoch kein Mu­ster erkennen. Die Präsenz variiert zwischen 7,2 und 0,07%.

Ein Novum innerhalb des Forschungsprojektes war es, dass zum ersten Mal flächendeckend die neureligiöse Szene erfasst wurde. Die neuen religiösen Strömungen und Esoterik-Anbieter sind vergleichsweise stark in der Eifel und in der Rheinschiene vertreten. Auf die gesamte Bevölkerung gerechnet, bleibt das neureligiöse Spektrum aber unter einem Prozent. Die Szene ist intern stark differenziert und mittlerweile zunehmend mit dem Weiterbildungs- und Gesundheitsmarkt verwoben. Relativ geschlossene Gruppen und Organisationen verlieren an Bedeutung gegenüber kurzfristig wählbaren, unverbindlichen Kursangeboten.

Räumliche Strukturen religiöser Vielfalt

Die Betrachtung der räumlichen Verteilung der einzelnen religiösen Strömungen zeigt, dass die regionalen Unterschiede sehr häufig an den Grenzen zwischen dichtbesiedelten (urbanen) und dünnbesiedelten (ländlichen) Räumen verlaufen. Es wird offensichtlich, dass die Besiedlungsdichte, also der Faktor Urbanität, einen ganz entscheidenden Einfluss auf die religiöse Vielfalt ausübt. Die Ballungsräume religiöser Pluralität liegen genau dort, wo auch die Bevölkerungsdichte am höchsten ist.

Die räumliche Verteilung religiöser Organisationen

Die folgende Abbildung betrachtet die Anzahl der religiösen Organisationen in den verschiedenen Landkreisen oder kreisfreien Städten Nordrhein-Westfalens. Das Streudiagramm zeigt einen Verlauf von links unten nach rechts oben, d.h. je höher auf der senkrechten Achse die Einwohnerzahl in den entsprechenden Landkreisen, desto höher ist auch die Anzahl der religiösen Organisationen, die dort aufzufinden sind.

Die religiöse Organisationsdichte ist im Ruhrgebiet und in der Rheinschiene am stärk­sten ausgeprägt. Herne und Bonn haben die höchste Organisati­ons­dichte. Hier sind im Schnitt mehr als eine religiöse Organisation pro Quadratkilometer anzutreffen. Die Schlusslichter bei der Organisationsdichte bilden das Münsterland – mit Ausnahme der Stadt Münster – und der Hochsauerlandkreis, hier finden wir also besonders wenige religiöse Organisationen pro km².

Die räumliche Verteilung der Mitgliedschaften

Schaut man sich die topographische Verteilung der Mitglieder- bzw. Zugehörigkeitsgrade insgesamt an, so ist zu erkennen, dass in den kleinstädtischen und ländlichen Gebieten wesentlich mehr Menschen einer Religionsgemeinschaft angehören als in den Ballungsräumen: In den dünnbesiedelten Gebieten, wie dem Sauerland oder dem Münsterland sowie in der Eifel und am Niederrhein sind besonders viele Menschen Mitglieder religiöser Organisationen, im Ruhrgebiet und entlang der Rheinschiene sind es dagegen besonders wenige. Die topographische Verteilung der Mitgliedschaftszahlen zeigt offensichtlich das gerade Gegenteil des Befundes zur Organisationsdichte. In den städtischen Gebieten gibt es zwar mehr religiöse Organisationen, diese binden aber weniger Menschen. Es lässt also eine starke Diskrepanz zwischen der hohen Organisationsdichte in den städtischen Gebieten und dem dort zugleich vorzufindenden niedrigen religiösen Engagement beobachten.

Die räumliche Verteilung der religiösen Diversität

Um die tatsächliche religiöse Diversität messen zu können, braucht man ein Messinstrument, dass es erlaubt, die Anzahl der Organisationen und die Mitgliederverhältnisse untereinander in eine statistische Beziehung zu setzen. Religiöse Vielfalt bedeutet schließlich, dass verschiedene religiöse Strömungen in der Lage sind, sich Anteile an der Bevölkerung zu sichern. Gefragt ist also ein Maß für religiöse Vielfalt, das die Anteile der einzelnen Religionsgemeinschaften an der Bevölkerung mitberücksichtigt. In einer solchen Weise gemessen, ist die religiöse Diversität in Duisburg, Wuppertal, Hamm, Köln, Düsseldorf, Dortmund und Gelsenkirchen am höchsten, im westlichen Münsterland, im Hochsauerlandkreis und im Landkreis Olpe am geringsten. Insgesamt sind das Ruhrgebiet und sein Umland sowie die Rheinschiene religiös besonders divers oder vielfältig. Religiöse Diversität bzw. Vielfalt ist vor allem ein urbanes Phänomen.

Religiöse Vielfalt und die Aktivierung religiöser Überzeugungen

Eine der berühmtesten Thesen zum Zusammenhang zwischen religiöser Vielfalt und religiöser Praxis stammt aus der neueren US-amerikanischen Religionswissenschaft. Dort behaupten die Vertreter/innen des so genannten „Marktmodells“, dass eine zunehmende religiöse Vielfalt die Verbundenheit der Bevölkerung mit religiösen Organisationen steigere. Dadurch, dass in Gebieten mit hoher religiöser Diversität relativ viele Organisationen vertreten sind, werden letztere dazu angeregt, aktiv für ihre Ideen und Praktiken zu werben. Der Konkurrenzkampf unter den verschiedenen Organisationen, die buntere „Angebotsstruktur“ soll demnach zu einer insgesamt gesteigerten Religiosität führen – ganz nach dem Motto: „Konkurrenz belebt das Geschäft“. Aus den Untersuchungen in NRW lässt sich dieser Zusammenhang nicht belegen – im Gegenteil: gerade dort, wo die Vielfalt der Organisationen am höchsten ist (wo also der Wettbewerb am stärksten wäre) ist auch die Säkularisierungsrate, also der Anteil der nicht religiösen Bevölkerung am höchsten.

Religiöse Vielfalt und die Relativierung religiöser Überzeugungen

Eine zweite Forschungshypothese hinsichtlich der Wirkungen religiöser Diversität auf das religiöse Leben führte zu einer gegenteiligen Prognose. Die Hypothese lautete hier: Wenn religiöse Menschen sehen, dass ihre eigene Weise der religiösen Orientierung nur eine unter vielen ist, dann kann dies zu einem Plausibilitätsverlust führen. Die Wahrnehmung der Vielfalt geht demnach mit einer Relativierung der religiösen Überzeugungen einher, der Einzelne kann unsicher bezüglich seiner eigenen Religiosität werden – im Extremfall sogar tendenziell areligiös. Der Religionssoziologe und Theologe Peter L. Berger gebraucht hier den Begriff der „Kontaminierung“, womit folgendes gemeint ist: die verschiedenen religiösen Offerten relativieren sich gegenseitig und führen deshalb gesamtgesellschaftlich zu einem Bedeutungsverlust von Religion. Eine solche Überlegung lässt sich anhand des Datenmaterials durchaus nachvollziehen, denn dort wo die religiöse Vielfalt am höchsten ist, dort ist zugleich auch die Säkularisierungsrate am höchsten.

Religiöse Vielfalt und die Verschmelzung religiöser Überzeugungen

Eine dritte Hypothese zum Zusammenhang von religiöser Diversität und religiöser Praxis besagt folgendes: Religiöse Vielfalt führt zur Verschmelzung verschiedener religiöser Traditionen und zu einer „hybriden“ Religiosität. Bei nicht wenigen Menschen scheint das Bedürfnis zu entstehen, sich aus verschiedenen religiösen „Angeboten“ einzelne Elemente herauszunehmen und sie miteinander zu kombinieren. Diese Tendenz kann durch religiöse Vielfalt gestärkt werden. Auch dafür finden wir die entsprechenden Belege. Gerade im neureligiösen Spektrum, in der Esoterik-Szene können die Interessierten zumindest im urbanen Raum aus einer großen Vielfalt von Kursen, Therapien, Wochenendseminaren aus den verschiedensten Traditionen auswählen. Dabei stellt sich ein individueller „Synkretismus“, eine Bricolage aus verschiedenen religiösen Traditionen ein. Durch die pluralistische Infrastruktur werden die religiösen Akteure in die Lage versetzt, sich ihre eigene Religiosität nach eigenen Präferenzen zusammenzubasteln.

Das Beispiel Nordrhein-Westfalens zeigt, dass die religiöse Vielfalt längst auch in der religiösen Landschaft Europas angekommen ist. Von einem erdrutschartigen Wandel der religiösen Lage in Nordrhein-Westfalen kann dabei jedoch nicht die Rede sein. Dazu sind die Mitgliedszahlen der beiden christlichen Großkirchen immer noch zu hoch. Immerhin aber wird im Zeitvergleich der letzten hundert Jahre deutlich, dass wir es mit einer weniger dominanten Prägung der religiösen Landschaft durch die beiden christlichen Großkirchen zu tun haben. Während die Mitgliedschaft in den beiden Großkirchen zu Anfang des Jahrhunderts noch über 98 % ausmachte, liegt sie in Nordrhein-Westfalen heute bei rund 70 %. Dementsprechend hat die Zahl der Menschen ohne Religionszugehörigkeit und der Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften in diesem Zeitraum kontinuierlich zugenommen. Es laufen demnach zwei Prozesse parallel ab: Zum einen die Säkularisierung im Sinne des Rückgangs der Bindungskraft religiöser Organisationen und parallel dazu die Pluralisierung im Sinne der Ausdifferenzierung der religiösen Mitgliedschaften und Angebote.

Für viele Zuwanderer/innen und Aussiedler/innen ist Religion ein wichtiger Identitätsfaktor: Sie sind im Vergleich zur gesamten deutschen Gesellschaft überdurchschnittlich stark in religiösen Organisationen engagiert. Nach den Berechnungen für NRW engagieren sich rund 43% der Migrant/innen in religiösen Organisationen. Dies stützt die Vermutung, dass Religion vor dem Migrationshintergrund an Bedeutung gewinnt, nicht nur in der Fremdwahrnehmung sondern auch in der Selbstwahrnehmung. Migrant/innen in Nordrhein-Westfalen besinnen sich zu großen Teilen auf die Herkunftstradition, zu der insbesondere die Religion gehört.

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